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Die Sache mit dem unbegrenzten Urlaub

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Bestimmt siehst Du auch immer mal wieder auf LinkedIn oder in diversen Blogs und Magazinen Beiträge zum unbegrenzten Urlaub. Netflix wird da als Paradebeispiel angeführt und das ganze wird offensichtlich als der neueste heiße Scheiß im Buhlen um die besten Mitarbeitenden gehandelt. 

Aber was bedeutet der unbegrenzte Urlaub wirklich? Wo kommt das eigentlich her und wer hat damit eigentlich angefangen? Ist das wirklich ein cooles neues Instrument, das ich meinen Mitarbeitenden als Benefit anbieten kann? Und was muss ich ggfs dabei beachten?

Lass uns das doch mal genauer anschauen.

Ein Blick rüber über den großen Teich

Das ganze Thema rund um den unbegrenzten Urlaub kommt aus den USA. Da fängt es auch gleich schon an, denn so etwas wie bezahlte „Urlaubstage“ gibt es in den USA gar nicht. Dort spricht man von PTO, also Paid Time Off. Was genau da der Unterschied ist und warum diese Abgrenzung wichtig ist, dazu komme ich gleich.

In den USA sind die Arbeitsbedingungen und Arbeitsverträge ein klein wenig ganz anders als bei uns.

Das geht schon bei der Krankenversicherung los. Es gibt zwar Krankenversicherungen, aber kein gesetzliches Versicherungssystem wie bei uns, sondern es sind rein private Versicherungsträger. Selbst wenn der Arbeitgeber sich daran finanziell beteiligt, so ist das ganze Gesundheitssystem dennoch dadurch noch lange nicht mit dem europäischen oder deutschen vergleichbar. Die Krankenversicherung regelt zunächst mal nämlich nur die ärztliche Versorgung. (Und selbst für die muss man dann immer noch satt zuzahlen, aber das nur am Rande) Medikamente gehen aus eigener Tasche und ja, auch eine „Arbeitsunfähigkeit“ wie bei uns, wo dann der Arbeitgeber das Gehalt oder den Lohn weiterzahlt und von der Krankenkasse der Ausfall übernommen wird, gibt es nicht.

Was macht ein Arbeitgeber in den USA also, wenn Mitarbeitende krank sind und Fehltage haben?

Richtig, es geht entweder von den PTO ab oder die Person bleibt für die Dauer der Krankschreiben unbezahlt.

Paid Time Off = Urlaub? Nein.

Deshalb ist es so wichtig zu verstehen, dass man PTO nicht mit Urlaub gleichsetzen kann. PTO sind keine Urlaubstage. Paid time off bedeutet einfach, dass du bezahlt wirst, obwohl du nicht gearbeitet hast. Auch wenn du arbeitsunfähig warst.

In den meisten herkömmlichen Employment Agreements in den USA gibt es 15 – 20 Tage PTO. Die meisten US-Employees kommen über 10 Tage Urlaub (also wirklich freie Zeit, ohne Krankheitstage) pro Jahr nicht hinaus. 16 Tage genommene PTO gelten als guter (!) Durchschnitt. Auch das ist wichtig zu verstehen, wenn man das Konzept „unlimited PTO“ aus den USA wirklich verstehen will.

Ein weiterer Punkt: In den USA haben Angestellte häufig das Recht, sich nicht genommene PTO auszahlen zu lassen. Traurig aber wahr: wenn es finanziell eng ist, kann es durchaus lukrativ sein, krank arbeiten zu gehen und sich die Tage auszahlen zu lassen. Für die Arbeitgeber ist das natürlich nicht so toll.

Aber ist es dann nicht total toll, wenn die US-Arbeitgeber nun unbegrenzte Paid Time Off einführen? Das sind doch riesige Vorteile für die Mitarbeitenden?

Sicher. In der Theorie ist es für die Mitarbeitenden toll, wenn sie wissen, dass sie sich auch mal krank melden oder für einen längeren Urlaub wegfliegen können.

Das funktioniert nur leider so einfach nicht und dafür muss man die Arbeitswelt und -kultur in den USA sehen und verstehen. Die Hire-and-Fire-Mentalität ist nichts ausgedachtes, sondern sehr real. In den USA sind sogenannte At-Will-Employments ganz normal, d.h. du brauchst nicht mal Gründe, um jemanden zu kündigen. Wenn dir Sally Sues Sweatshirt nicht gefällt oder Jake Josephs Schuhe dann kannst du als Arbeitgeber einfach die Kündigung aussprechen.

Und die USA haben leider ein ganz anderes Verständnis von Führung, von Leistungsträger:innen und von Arbeitsmoral. Es ist, vereinfacht gesagt, Teil der Arbeitskultur viel zu arbeiten, sich reinzuhängen, aufzuopfern. Und es gibt viele Führungskräfte, die genau das sehen wollen und honorieren. Will sagen: Jemand der von den unlimited PTO Gebrauch macht und drei Wochen krank ist, kann sich womöglich nie ganz sicher sein, ob das nicht nach hinten los geht und die Beförderung oder womöglich der ganze Job am Ende noch da ist. Das ist die eine Sache.

Die andere Sache ist: In den USA sind Employee Handbooks mit allerlei Policies ganz normal. Da wird auch das Thema unlimited PTO geregelt.

Wie immer lohnt ein Blick ins Kleingedruckte

Wenn man in diese dann mal reinschaut, stellt man schnell fest: in den wenigsten Unternehmen ist unlimited PTO wirklich so unlimited. Urlaubsanträge müssen trotzdem eingereicht, geprüft und genehmigt werden. Obendrauf sagen die company policies sehr eindeutig, dass, wenn das Projekt, die Arbeit etc es erfordert der Urlaub auch durchaus nicht gewährt werden darf. Und es findet sich nahezu immer im kleingedruckten so etwas wie das Wörtchen „reasonable“. 

Aber was ist jetzt nun wieder „reasonable“, also angemessen?

Verhältnismäßigkeit braucht bekanntlich ja immer eine Bezugsgröße. Und wie ist die in den USA? Wir erinnern uns. Die meisten US Employees kommen über 10 Tage pro Jahr nicht hinaus, 16 gelten schon als guter Durchschnitt. 20, 25 Tage gelten da dann schnell als maximal reasonable. Das ist den USA dann „unlimited PTO“. Surprise, das ist genau so viel wie wir in DE meist standardmäßig im Vertrag haben. Aber bei uns ist das reiner Urlaub – in den USA sind da Krankheitstage und Tage sonstiger Arbeitsunfähigkeit mit eingeschlossen.

Und übrigens: Die Employees mit unlimited PTO in den USA kommen im Durchschnitt auf 13 Tage PTO. Also in Summe weniger als bei der traditionellen Regelung.

Einen weiteren Vorteil für die Arbeitgeber hat die ganze Sache auch noch: Es gibt keinen Cash-Out mehr. Denn weil die Mitarbeitenden ja theoretisch die Möglichkeit hatten, unlimited PTO zu nehmen, gibt es auch nichts mehr auszuzahlen. Es wird also am Ende noch was gespart.

Ja, aber nur, weil es in den USA so läuft, heisst das ja nicht unbedingt, dass unbegrenzter Urlaub in Deutschland etwas schlechtes sein muss.

Dieses Argument höre ich häufig, gerne auch auf LinkedIn, wenn ich mich kritisch zum Thema äußere.
Erstmal: Nein. Natürlich nicht. Wenn ein Unternehmen unbegrenzte Urlaubstage anbieten möchte, gerne, macht das.

Ich möchte nur darauf hinweisen, was häufig in diesen Beiträgen geschieht. Nämlich unreflektiertes Abfeiern von Unternehmen wie Netflix und Co. und die Übernahme deren „best practices“ ohne die Hintergründe zu kennen. Und ich wollte gerne klarmachen, dass man das Thema „unlimited PTO“ und „unbegrenzter Urlaub“ nicht einfach in einen Topf werfen kann, weil es Begrifflichkeit aus zwei völlig unterschiedlichen Systemen sind.

Natürlich soll das nicht heißen, dass man in Deutschland keinen unbegrenzten Urlaub einführen könnte. Aber die Ausgangs- und Rahmenbedingungen sind einfach ganz andere.

Angefangen von unserem Krankenversicherungs- und Gesundheitssystem, dass uns ja volle 6 Wochen Lohnfortzahlung garantiert und darüber hinaus noch Krankengeld-Leistungen der Krankenkasse. Dann haben wir, anders als in den USA, ja zum einen einen gesetzlichen Mindesturlaub und eine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Das heisst komplette Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, auch wenn es noch so schön modern und new-work-mäßig klingt und sich toll verkaufen lässt, kann es in unserem System letztlich nicht zu 100% geben.

Herausforderungen an Arbeits- und Organisationskulturen

Ein weiterer Punkt – und womöglich der wichtigste – ist jedoch, dass ein Team von Mitarbeitenden, ein Unternehmen als Organisation und Gebilde, das auch erst einmal aushalten können muss. Ich würde den Punkt nicht unterschätzen, was es für psychologische Auswirkungen haben kann, wenn in einem Unternehmen plötzlich unbegrenzter Urlaub eingeführt wird und die Mitarbeitenden aus Abteilung x munter 60 Tage im Jahr frei machen können, während in der Abteilung y, in der schon seit 2017 Notstand herrscht und Resturlaubstage ins Folgejahr übertragen wurden, weil es schon nicht möglich war, die bisher vertraglich vereinbarten 28 Tage zu nehmen.

Wie geht man damit um? Wie sorgt man dafür, dass alle die gleiche gerechte Basis haben, so viel Urlaub zu nehmen, wie man möchte? Wie begleitet man als Arbeitgeber die Menschen, die von ihrem Charakter und ihrem Naturell her schon grundsätzlich dazu neigen, sich zu sehr verantwortlich zu fühlen und tendenziell weniger Urlaub nehmen? Wie erfasst man rechtzeitig aufkommende Spannungen, z.B. weil Menschen sich einer ungerechten Situation ausgesetzt fühlen, weil sie nicht das Gefühl haben, so viel Urlaub machen zu können, wie die Kolleg:innen aus Abteilung x?

Erst wenn all diese Dinge vorher bedacht wurden, wenn eine Organisation auf der Beziehungsebene stark und belastbar genug ist, diese Effekte, die da entstehen können (!), aufzufangen, zu begleiten und auszuhalten, dann kann man meiner Ansicht nach darüber nachdenken, auch in Deutschland unbegrenzte Urlaubstage einzuführen.

Leider sehe ich in der Realität und Praxis nur die wenigsten Organisationen wirklich so dermaßen stark aufgestellt, dass sie das auch wirklich leisten und aushalten können.

Wunsch und Wirklichkeit

Deshalb mein Rat: Lasst euch nicht unreflektiert von US-amerikanischen best practices blenden. Denn wie ihr nach dem Lesen dieses Artikels nun wisst, ist ganz vieles davon einfach nur schöner Schein. Tatsächlich sind wir in Deutschland im internationalen Vergleich mit unseren Urlaubs- und Arbeitsunfähigkeitstagen ganz schön gut aufgestellt. Und wenn ihr euren Mitarbeitenden wirklich mehr Freiraum bieten wollt, fangt doch vielleicht erst einmal mit einer Erhöhung der Urlaubstage an. Für alle. Von 26 auf 30. Oder falls ihr schon 30 habt, dann eben auf 35. Das bietet einen fairen, gleichen Rahmen für alle und trotzdem viel Freiraum für freie Zeit. Und falls es euch um das selbstbestimmte, eigenverantwortliche Arbeiten geht, das kann man ja auch in anderen Bereichen stärken. Nicht nur im Bereich unbegrenzter Urlaubstage.

Aber dazu dann vielleicht mehr in einem anderen Artikel 😉

(Photo by Dino Reichmuth on Unsplash)

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